zur Erinnerung
Medienberichte über den Osten : Wie aus dem Kongo

Von Stefan Locke

-Aktualisiert am 02.10.2020-11:52

Das Bild Ostdeutschlands in den Medien ist seit dreißig Jahren erschreckend einseitig. Es bessert sich ein wenig, doch mit der Bevormundung ist noch lange nicht Schluss.
Jahrgang 1990, aber trotzdem ostdeutsch: Tina Arndt aus Leipzig.
Bild: rbb/Hoferichter & Jacobs

Die ARD ging am Montagabend aufs Ganze: Zur besten Sendezeit um 20.15 Uhr zeigte sie eine Dokumentation mit dem expliziten Titel "Wir Ostdeutsche". Was selbstverständlich nicht heißt, dass an den Schalthebeln des Senderverbundes jetzt tatsächlich Ossis säßen, so weit geht die Liebe dann doch nicht. Vielmehr erzählen darin neunzig Minuten lang Menschen aus allen ostdeutschen Ländern über ihr Leben - und zwar ohne Fokus auf Stasi, Armut, Nazis. Diese Themen werden keineswegs ausgeblendet, aber sie stehen, für viele Westdeutsche womöglich überraschend, nicht im Vordergrund. Stattdessen berichten die Protagonisten darin über ihren Alltag in der DDR, sie erzählen, wie sich ihr Leben nach 1989 radikal gewandelt hat und wie sie die Veränderungen gemeistert haben. Herausgekommen sind eindrucksvolle und vor allem realistische Porträts über die Verhältnisse im Osten der Republik, der nun seit dreißig Jahren Teil des wiedervereinten Landes ist.

Stefan Locke

Korrespondent für Sachsen und Thüringen mit Sitz in Dresden.

Oder vielmehr sein sollte. Denn die endlich mal aus dem Leben gegriffene Ost-Perspektive reißt die ARD auf ihrer Internetseite dazu gleich wieder ein. "Der Osten ist bis heute anders, und die Ostdeutschen sind es auch", heißt es dort, und man möchte die ganze Zeit rufen: "Der Westen ist auch anders, und die Westdeutschen sind es auch!" Und wenn die ARD und ihre Länderanstalten noch genauer hinschauten, würden sie völlig überraschend feststellen, dass Bayern und Brandenburg ebenfalls anders sind, genauso wie Sachsen und Thüringen oder Hessen und Schleswig-Holstein. Das zeigt, was seit Jahren - nicht nur im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, sondern auch im Privatfernsehen und großen Zeitungs- und Zeitschriftenverlagen - schiefläuft: Die Perspektive der Ost-Berichterstattung ist nahezu ausschließlich westdeutsch. Auch wenn sich da seit einiger Zeit etwas verändert, klingen nach wie vor viele Berichte über Ostdeutschland wie aus dem Kongo, freilich mit dem Unterschied, dass diejenigen, über die berichtet wird, das auch unmittelbar mitbekommen.

Als vor einem Jahr das Landgericht Chemnitz einen syrischen Asylbewerber wegen Totschlags zu neuneinhalb Jahren Haft verurteilte, stellte sich dessen aus München angereiste Verteidigerin im Anschluss vor die Presse und erklärte, dass das ein politischer Prozess gewesen sei, das Gericht sich dem Druck des Mobs gebeugt habe, Ausländer vor ostdeutschen Gerichten eben schuldig wären, die Demokratie im Osten noch nicht angekommen und das somit "ein schwarzer Tag für den Rechtsstaat" sei. Im Übrigen werde das Urteil vor dem Bundesgerichtshof keinen Bestand haben. Das Urteil hatte dann Bestand, und zwar vollumfänglich. Bemerkenswert aber war, wie große Online-Portale und Zeitungen, deren Reporter den Prozess mit eigenen Augen verfolgt hatten, in ihren Texten die absurde Erzählung der Anwältin zum Teil bis in die Überschrift hinein unreflektiert übernahmen.

Im umgekehrten Fall wäre so etwas undenkbar, doch das über Jahrzehnte auch medial perpetuierte Bild des Ostens als rückständig, ausländerfeindlich und stasi verseucht hat sich fest eingebrannt - mit mindestens zwei in Ost und West unterschiedlichen, aber ernsthaften Folgen: Tatsächliche Probleme werden im Osten gern als medial aufgebauscht, wenn nicht gar verursacht abgetan ("Sachsen-Bashing") und somit häufig einfach negiert, während Ost-unerfahrene Westdeutsche, die zum Studieren oder Arbeiten in den Osten ziehen, sich bis heute vor Familie und Bekannten rechtfertigen müssen, wie sie denn auf diese Idee kommen könnten. Das Unverständnis wiederum kippt regelmäßig dann in Begeisterung, wenn die oberskeptische Verwandtschaft das abtrünnige Familienmitglied erstmals im Osten besucht und dann entzückt feststellt, dass dieser weder eine Terra incognita noch No-go-Area ist.

Die gesamtdeutsche Norm, aber bleibt westdeutsch, aus ihr wird das Land beschrieben und kommentiert. In der kürzlich im ZDF gezeigten "Großen 80er-Jahre-Show" kam die DDR gleich gar nicht vor, es war geradezu so, als hätte die SED die Achtziger in der DDR glatt verboten. Das ist offenbar weder Produzenten noch Redakteuren aufgefallen, die Fernsehgebühren bekommen sie freilich trotzdem und in gleicher Höhe auch aus dem Osten. Der Schriftsteller Ingo Schulze erzählte in einem Interview mit der "Berliner Zeitung", dass er nach wie vor als "ostdeutscher Schriftsteller" vorgestellt werde. "Womit ich kein Problem hätte, wenn meine Kollegen mit West-Biografie dann eben westdeutsche Schriftsteller wären", sagte Schulze. "Aber sie sind die deutschen Autoren. Diese Zweiteilung sitzt tief." Und sie liegt auch daran, dass es so gut wie kein Medium gibt, das wahrnehmbar mit ostdeutschem Blick auf die Dinge schaut. Der Deutsche Fernsehfunk und fast alle überregionalen Zeitungen der DDR wurden abgewickelt und zerschlagen oder verkauft und dann meist eingestellt. Die auflagenstarken Regionalzeitungen gingen an westdeutsche Verlage, die Redaktionen bekamen westdeutsche Chefs, die Themen und Einschätzungen präsentierten, die nicht selten am realen Erleben ihrer Leser vorbeigingen.

Das auf diese Weise über die Jahre entstandene Bild beschreibt die Leipziger Autorin Kathrin Aehnlich treffend komisch in ihrem kürzlich erschienen Roman "Wie Frau Krause die DDR erfand". Darin sucht ein Münchner Filmautor "authentische Ostdeutsche" für eine Serie über die DDR. Die Protagonisten geben sich dann allerdings, wie sie eben sind, und verhalten sich damit aber ganz anders, als es sich das Filmteam vorgestellt hat, was in dem Satz gipfelt: "Das ist doch nicht die DDR, die wir abbilden wollen!" Er könnte beinahe prototypisch für einen Gutteil des medialen Umgangs mit dem Osten der vergangenen Jahrzehnte stehen.

Immerhin ändert sich seit geraumer Zeit etwas, bemerkenswert etwa in der "Berliner Zeitung", die zum Einheitsjubiläum nicht nur über Helmut Kohl, die Kosten der Einheit und den Solidaritätszuschlag schreibt, sondern in einer Serie über Umbruchserfahrungen Menschen aus Ostdeutschland, darunter auch Politiker der letzten DDR-Regierung, zu Wort kommen lässt. Es geht eben auch um diese Perspektive, darum, was Ostdeutsche jenseits von Rotkäppchen-Sekt, Bautzner Senf und Spreewaldgurke in das vereinte Deutschland einzubringen haben und was sich daraus womöglich für heutige Umbrüche lernen lässt.

Die Gefahr besteht jetzt freilich darin, dass das Ganze ins Gegenteil kippt. Es sind gerade Ost-Festspiele in den Medien mit plötzlich überbordendem Verständnis. Man beugt sich über Ostdeutsche, streichelt ihnen verbal den Kopf, will auf einmal "Lebensleistungen anerkennen" und bekennt sich gratismutig zu Fehlern, die vor dreißig Jahren passiert seien. Und auch wenn das alles angenehmer daherkommen mag als dumpfe Vorurteile, wirkt es bisweilen nicht minder übergriffig. Wie viel mehr Vertrauen ließe sich dagegen wohl gewinnen, ließe man beim Berichten aus Gera, Stendal oder Wittenberg die Ost-West-Brille künftig genauso weg wie in Lüdenscheid, Koblenz oder Osnabrück.


Quelle: FAZ - STEFAN LOCKE vom 02.10.2020


© infos-sachsen / letzte Änderung: - 22.01.2023 - 11:08